Für Kleine. Für Große. Fürs Herz.

Tag X: Die Herz-OP

IN Rückenlage steriles Abdecken

…das sind die ersten Worte des OP-Berichts. In Rückenlage steriles Abdecken. Diese Worte schwirren immer wieder in meinem Kopf, wenn ich an die OP denke. Steriles Abdecken. In Rückenlage. Dazu taucht immer wieder das gleiche Bild vor meinen Augen auf. Den Tag der OP zu beschreiben ist eine echte Herausforderung. Ich weiß nicht, die wievielte Version des Testes Ihr gerade lest, aber sie ist mindestens zweistellig. Und bei jeder einzelnen habe ich geweint. Obwohl es fast drei Jahre her ist, ist die Angst immer noch so unfassbar nah. 

Und trotz unzähliger Versuche merke ich, dass es mir einfach nicht gelingt, die Ängste, Gefühle und Gedanken in (die richtigen) Worte zu fassen…  

Hallo Tag x

Da war er also – unser Tag X. Der 18. Oktober 2017. Was für eine Nacht. Ich hatte kaum ein Auge zugemacht, war wahnsinnig müde und gleichzeitig wahnsinnig aufgedreht. Mein Kopf schmerzte, die Tränen flossen immer noch.

Der kleine Tiger schlief wider Erwarten nach dem letzten Stillen um zwei Uhr bis zum Morgen durch. Ich zog mich an, packte unsere Sachen und nahm den Tiger in die Trage. Jakob kam zu uns. Gemeinsam warteten wir auf den Transport, der uns um 06:45 Uhr abholen sollte. Wir wanderten die leeren Krankenhausflure auf und ab. Es wurde 6:45, es wurde 7:00. Und wir wanderten immer noch. Die Schwestern telefonierten dem Transport hinterher, niemand kam. Um 07:20 Uhr kamen zwei Damen mit einer riesigen Erwachsenenliege. Als sie den Tiger sahen, war ziemlich schnell klar, dass hier niemand liegen würde. Also fuhren die zwei Damen mit ihrer riesigen Trage unsere Tasche, die Krankenakte und eine Bettdecke zum Krankenwagen. Draußen war es kalt, neblig und dunkel. Wir setzten uns in den Krankenwagen, der gedämmt blau beleuchtet war. Wir wurden in die Bettdecke eingeschlagen. Im Schritttempo fuhren wir über das leere Klinikgelände. Vor dem UHZ hielten wir an und wurden von den Damen bis in die OP-Schleuse begleitet. Als ob wir auf den letzten Metern ausbüxen würden.

Abschied

Wir klingelten an der OP-Schleuse. Niemand öffnete. Wir klingelten nochmal. Und nochmal. Häää? So langsam kam uns der Verdacht, dass man uns vergessen hatte. Erst der vergessene Krankentransport, dann öffnet niemand die OP-Schleuse. Gut geplant ist anders. Irgendwann öffnete sich die Tür zur Schleuse dann doch. Mein erster Gedanke: Um Gottes willen! Was für eine Rumpelkammer! Der Raum war kalt, grell beleuchtet und völlig vollgerumpelt. Betten, Medikamentenbäume, Schränke, Boxen, Kartons – alles durcheinander. Wir warteten im „unreinen“ Bereich, der vom reinen Bereich durch einen Klebestreifen am Boden getrennt war. Und warteten. Und warteten. Ich heulte, küsste den Tiger, heulte, küsste den Tiger. Ich hatte mir so fest vorgenommen, erst zu weinen, wenn der Tiger abgegeben war, aber mein Herz war nicht so stark wie mein Verstand. 

Irgendwann öffnete sich eine Tür im reinen Bereich der Schleuse und zwei Anästhesisten standen vor uns. Im kompletten OP-Outfit. OMG. Jetzt war es wirklich soweit. Aber ich war noch nicht soweit!! Ich wollte, ich konnte meinen Tiger jetzt nicht hergeben. Was, wenn er nicht wiederkommt? Sie stellten sich vor, die Namen rauschten an uns vorbei. Sie waren wahnsinnig freundlich, sehr positiv und hatten lächelnde Augen. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Dann war es Zeit. Wir nahmen Abschied: Küsse, Küsse, Küsse, nochmal drücken, nochmal küssen. Wir sagten ihm noch mal, wie sehr wir ihn liebten. Im Inneren schrie mein Körper noch viel, viel mehr. Bleib hier! Lasst ihn bitte bei mir! Komm bitte, bitte wieder! Lass mich bitte, bitte nicht allein!

Bis später, kleiner Tiger

Die Anästhesisten nahmen den Tiger auf den Arm und sprachen mit ihm. Er schaute sie mit großen Augen an, weinte aber nicht. Ich sagte ihnen, dass sie jetzt unser Wertvollstes in der Hand hielten und bat sie, gut auf ihn aufzupassen. Mehrfach. Sie versprachen es. Mehrfach.

Dann mussten sie gehen. Und wir auch. Niemals werde ich diesen Moment vergessen. Der Blick des Tigers, als wir gingen. Als sich die Tür hinter uns schloss, brach ich zusammen. Ich schluchzte und weinte, ließ alles raus. Im Fahrstuhl konnte auch Jakob sich nicht mehr zusammenreißen. Die Damen vom Transport begleiteten uns immer noch, waren aber ebenfalls sichtlich berührt und eine der beiden nestelte ein Paket Taschentücher für uns aus ihrer Jackentasche. Was sich so alles einbrennt…

Das lange Warten

Dann gingen wir ins Baumhaus. Wir legten uns aufs Bett und weinten. Naja, heulen trifft es eher. Meine Gedanken waren nur beim Tiger. Ob er wohl gerade weint? Ob er Angst hat? Ob er schon in Narkose liegt? Ob die Zugänge liegen? Ob der Brustkorb schon geöffnet ist? Ob das Herz schon angehalten wurde? Besonders die letzte Frage beschäftigte mich den gesamten Vormittag. Die Vorstellung, sein Herz anzuhalten, ihn dann künstlich am Leben zu halten und anschließend das Herz wieder in Gang zu setzen, war das schrecklichste, was mein Herz und mein Kopf sich vorstellen konnten. Ich dachte, ich müsse es spüren. Würde man sein Herz anhalten, würde auch die Welt still stehen. Und tatsächlich fühlte es sich so an, als würde unsere Welt an diesem Tag still stehen. Nur die Autos auf der Straße waren ein Zeichen dafür, dass sich die Welt außerhalb unserer kleinen Blase weiterdrehte.

Irgendwann beschlossen wir, dass wir versuchen sollten, zu schlafen. Große Hoffnung hatten wir nicht. Ich war noch nie in meinem Leben so müde und so aufgeputscht zugleich. Außerdem hofften wir, dass die Zeit im Schlaf schneller vergehen würde. Wir lagen im Bett und starrten an die Decke. Ob das Herz schon still steht? Irgendwann dämmerte Jakob kurz weg. Ich warf ein, zwei Kopfschmerztabletten ein und ging duschen. Sehr lang und sehr heiß. Und heulte, heulte, heulte. Dann machte ich den Fernseher an. Aber sind wir mal ehrlich, dass TV-Programm Mittwoch morgens ist jetzt nicht wirklich der Knaller. Am Ende bestellte ich Weihnachtsgeschenke und checkte immer wieder, ob ich eventuell einen Anruf verpasst hatte und ob der Klingelton meines Telefons auch wirklich angestellt war. 

Wieso ruft niemand an?

Es wurde 12 Uhr. Aber wir sollten uns ja keine Gedanken machen. Auch um eins hatte sich noch niemand gemeldet. Um zwei auch nicht. Ich wurde unruhig. Telefon checkcheck. Um 15 Uhr wurde mir schlecht und ich war mir sicher, dass etwas passiert ist. In meinem Kopf spielten sich die wildesten Szenen ab – von Komplikationen bis zur Reanimation. Um 16 Uhr war immer noch alles ruhig. Kurz nach 16.00 rief ich auf der Kinderherzintensivstation an. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Aber sie hatten gute Nachrichten. Die OP sei gut verlaufen. Der Tiger würde gerade transportklar gemacht und man würde ihn in 15-30 Minuten auf der Station erwarten. Dann müsse er noch um- und angestöpselt werden und dann dürften wir zu ihm. Wir sollten gegen 16.45 da sein.

Good News

Kurz darauf klingelte das Telefon und die nette Ärztin vom Vorgespräch war dran. Sie klärte uns über die OP und den Verlauf auf. Tatsächlich habe es wesentlich länger gedauert als erwartet, weil sich während der OP Defekte anders dargestellt hätten, als sie es per Ultraschall angenommen hatten. Sein VSD sah immer recht klein aus, war aber nur von vorn einsehbar. Als man es dann schließen wollte, habe man festgestellt, dass es sozusagen auf der Rückseite weitergeht. Aber wie genau war nicht wirklich einsehbar. Deshalb wurde (bei gestopptem Herz und während er an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen war) ein zusätzlicher Ultraschall über den Rachen vorgenommen, um das Loch genau darzustellen.

Auch der Patch war nicht so einfach anzubringen. Der leichte Weg hätte bedeutet, die Pulmonalklappe zu trennen und mit freier Sicht das Loch schnell verschließen zu können. Der Chirurg hat sich jedoch dagegen entschieden. Zwar habe man entdeckt, dass die Pulmonalklappe fehlgebildet ist und nur zwei statt der üblichen drei Flügel aufweist, aber da diese bisher gleichmäßig angelegt seien, habe er sie unbedingt erhalten wollen und habe dafür umständlicher nähen müssen. Jetzt bestünde die Chance, sofern die bikuspide Klappe weiterhin mitwachsen und ihre Aufgabe erfüllen sollte, einen späteren Eingriff an der Pulmonalklappe vermeiden zu können. Der verdickte Teil des Herzmuskel sei ebenfalls erfolgreich abgetragen worden. Und die Verengung an der Pulmonalarterie sei so minimal gewesen, dass der Körper den Zustand gut tolerieren und man deshalb dort keine Korrektur vornehmen würde. 

213 Minuten hatte man sein Herz angehalten. 3 1/2 Stunden! Als es wieder in Gang gesetzt wurde, schlug es, als sei nichts gewesen. 

Hörst Du den Stein fallen?

Die Erleichterung war riesengroß. Wir wussten, dass die nächsten 48 Stunden immer noch kritisch sein könnten, aber die Nachricht, dass er lebte und dass erst einmal alles gut aussah, war phänomenal! Wir machten uns auf den Weg ins UHZ und…richtig….warteten.

Der Tiger war noch unterwegs und wir mussten im Wartezimmer warten. Dann kam der Chirurg vorbei und nahm sich noch einmal sehr viel Zeit, um uns die OP und die einzelnen Schritte zu erklären. Er selbst sei sehr zufrieden mit dem Ergebnis und es gäbe Hoffnungen, dass dies vielleicht seine erste und letzte OP am offenen Herzen gewesen sei. Was für wunderbare Nachrichten. Er würde jetzt noch einmal nach ihm schauen und dann dürften wir auch dazukommen. Am Ende war es 17.45 Uhr, als wir endlich, endlich zu ihm durften.



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