Für Kleine. Für Große. Fürs Herz.

Plötzlich Herzfamilie – unsere Geschichte im Zeitraffer

Und auf einmal ist da nur noch angst...

In der Schwangerschaft überwiegt wahrscheinlich bei den meisten die Vorfreude. Die riesige Freude auf ein kleines Bündel DU+ICH. Klar hat man immer auch die Angst im Hinterkopf, dass irgendetwas nicht so sein könnte, wie es sein soll, aber solche Gedanken schiebt man nach jedem „guten“ Ultraschall ganz schnell weg und sie kommen erst kurz vor dem nächsten Ultraschall wieder zurück. So war es zumindest bei uns. 

Beim zweiten Kind waren wir tatsächlich ein bisschen entspannter, schließlich hatte ja schon einmal alles gut geklappt, wieso sollte es dieses Mal anders sein. Also gingen wir zuversichtlich, wenn auch nervös, in der 21. SSW ins Pränatalzentrum zum Feinultraschall, der bei mir als Diabetikerin und im Alter von 35+ zur Routine gehörte. Als wir um 15.45 Uhr die Praxis betraten, freuten wir uns darauf, unser Baby sehen zu können und darauf, in drei Tagen Weihnachten mit der Familie zu feiern. Als wir 90 Minuten später wieder vor der Tür standen, lag unsere Welt in Scherben, die Ohren rauschten, der Kopf steckte in Watte und ich hätte am liebsten laut geschrien, dass die Welt bitte auch für alle anderen kurz stehen bleiben und nicht einfach so tun soll, als sei nichts geschehen. 

Wir hatten gerade erfahren, dass unser Sohn mit mehreren, zum Teil komplexen Herzfehlern auf die Welt kommen wird, eine Operation am offenen Herzen, eventuell schon direkt nach der Geburt, unumgänglich sein wird, weitere Defekte und ggf. Behinderungen nicht ausgeschlossen werden können und am nächsten Morgen auf Trisomie 13, 18 und 21 sowie andere Gendefekte untersucht wird. Sollte Trisomie zusätzlich zum Herzfehler nachgewiesen werden, bestehe durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind schwerst geistig und körperlich behindert oder sogar nicht (über)lebensfähig sei. 

Haben die wirklich von unserem Kind gesprochen? Von unserem Sohn? 90 Minuten, die innerlich irgendetwas zerbrochen haben, das nicht wieder zu kitten sein wird. Egal, wie das hier ausgeht – es wird nie wieder sein wie um 15.45 Uhr – bevor wir die Praxis betreten haben. 

 

Angst, Verzweiflung und ein funken hoffnung

Die folgenden Wochen waren ständiges Auf und Ab. Also eigentlich eher ein ab-ab-ab-auf. Auch wenn man Trisomie ausschließen konnte, dauerte es mehrere Wochen bis die abschließenden Ergebnisse der Microarray-Untersuchungen vorlagen. Wochen, in denen sich Arzttermine, Untersuchungen, Gespräche mit Kinderkardiologen, Gynäkologen, Pränatalzentrum, Krankenhäusern, Herzstationen, Geburtsstation aneinander reihten und man gleichzeitig beruhigter und beunruhigter wurde. 

Ich habe nächtelang gegoogelt, Happy Endings gesucht, bin Foren und Gruppen beigetreten, habe Studien über Fallot-Tetralogie, VSDs, PFOs, erst doppelte, dann rechte Aortenbögen, über Morbidität, Mortalität, Lebensqualität etc. verschlungen. Ich habe alles aufgesogen, was ich finden konnte. Und immer wieder habe ich auch ein bisschen Hoffnung gefunden. 

Je näher die Geburt rückte, desto positiver wurden die Prognosen meiner Ärztin. Weil sich das Herz weiterhin gut entwickelte, machte sie uns Hoffnung, dass wir die OP direkt nach der Geburt eventuell überspringen können und der Tiger nur die Korrektur um den 6. Lebensmonat herum benötigt. Sie könne zwar keine Garantie geben, aber sie sei guter Dinge. Was für ein Hoffnungsschimmer!

Kleines Herzkind - großer Kämpfer

Und dann war er da! Der Tag, den wir so herbeigesehnt hatten und gleichzeitig unglaublich fürchteten! Unser Tiger kam auf die Welt – und war 54cm groß und 3760g schwer, viel größer und schwerer als seine große Schwester – und überhaupt nicht das kleine, zarte Kind, das man uns beschrieben hatte. Es ging ihm sehr gut, er war stabil, sein Herz leistete volle Arbeit. Die Sauerstoffsättigung war wie bei gesunden Kindern, er trank sofort, er entwickelte sich gut und zeigte von Anfang an, dass er bestimmt, wo es lang gehen wird. 

Aber er zeigte eben auch die typischen Symptome von Herzkindern: er schwitzte viel, war schnell müde und er atmete schnell. Unglaublich schnell. Manchmal konnte ich nachts nicht schlafen, weil er so schnell atmete. 80 Atemzüge pro Minute und mehr waren keine Seltenheit. Irgendwann nahm er nicht mehr genug zu, es musste zugefüttert werden. Zur Entlastung des Herzens bekam er Medikamente, wir waren unter regelmäßiger Kontrolle und die Ärzte waren trotz allem in Anbetracht der Umstände zufrieden. 

Aber der Albtraum rückte näher. Wir wussten, dass zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat die OP stattfinden wird. Und dann war er da, der Tag, der uns monatelang kaum schlafen ließ: Mit 5 1/2 Monaten wurde die Korrektur durchgeführt. Korrektur klingt so viel besser als OP am offenen Herzen unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine. Noch heute macht mir das eine Gänsehaut. Ich wollte ihn nicht hergeben, wollte mich nicht verabschieden, hatte eine unglaubliche Angst, ihn niemals lebend wiederzusehen. Und die ist so tief verwurzelt, dass ich noch heute nur beim Gedanken an die OP-Schleuse diese unglaubliche Angst spüre, die Tränen hochsteigen und sich der Brustkorb zuschnürt. 

Die OP dauerte länger als geplant. Man sagte uns, wahrscheinlich sei man zwischen 12 und 14 Uhr fertig. Um 16.00 haben wir immer noch gewartet. Erst kurz vor 18.00 durften wir zu ihm. 10 Stunden hat es gedauert, bis wir wieder zu ihm durften. Ein winziger, aufgequollener Tiger, ein riesiges Bett, Schläuche und Kabel, wohin man sah, an Kopf, Füßen, Händen, aus dem Hals, aus der Brust. Beatmet, narkotisiert, leblos… so lag er da. Ein Bild, dass mich nicht mehr loslässt und mich immer wieder einholt. Aber es ging ihm gut. Da die OP jedoch so lang dauerte und auch die Zeit an der Herz-Lungen-Maschine wesentlich länger war als geplant, wollte man ihm und seinem Herzen über Nacht Erholung gönnen und hatte ihn entsprechend sediert. 

Wunderbares, starkes Herzkind

Und dann – auf der anderen Seite der OP – ging alles recht schnell. Anfangs kämpfte er mit Komplikationen, man hatte seine Lymphgefäße beschädigt und die Lymphflüssigkeit hat sich in der Pleurahöhle, also im Brustkorb angesammelt. Das wiederum erschwerte das Atmen. Also wurden Drainagen gelegt, die drei Tage lang die Lymphe abtransportierten. Davon abgesehen schien es, als würde der Tiger auf der anderen Seite der OP die Geschwindigkeit erhöhen. Kaum war der ZVK (zentraler Venenkatheter), der oben an der Halsbeuge eingeführt war und bis vors Herz führte, entfernt, drehte er sich selbst wieder auf den Bauch, nach 14 Tagen durften wir nach Hause. 

Der Muck schien zu merken, dass er seine Energie nicht mehr einteilen musste und drehte auf. Er überraschte uns jeden Tag. Und das ist bis heute nicht anders. Er geht nicht, er läuft. Er tobt, klettert, schießt, rennt. Er ist immer in Bewegung. Immer! Er isst wie ein kleiner Scheunendrescher. Er ist der lustigste, wildeste Junge, dem der Schalk im Nacken sitzt und aus den Augen springt. Ich habe selten ein Kind mit so viel Lebensfreude erlebt. Er hat sie wirklich: die Freude am Leben. Er saugt das Leben auf. Und: es geht ihm gut. Richtig gut. 

Heute führen wir das Leben, das wir nach der Diagnose kaum zu wünschen gewagt hätten: Der Tiger ist jetzt 2 Jahre alt, geht in die Kita, macht Blödsinn, redet wie ein Wasserfall, singt, tanzt, hüpft – wie alle seine Freunde auch. Er ist medikamentenfrei und hat keine Einschränkungen. Fliegen, Urlaube in warmen Destinationen, Sport – alles ist erlaubt. Laut unseres Chirurgen steht einer Karriere als Profi-Fußballer nichts entgegen – zugegeben, nicht unsere erste Berufswahl… Wer es nicht weiß, würde nie im Leben erahnen, was dieser kleine Wirbelwind in seinem Rucksack trägt und schon erlebt hat. Nur seine Narbe verrät ihn. 

Unser Leben wird nie so sein wie das, das am 21. Dezember 2016 in 1000 Stücke fiel. Die Diagnose hat uns und unser Leben verändert. Die Herzfehler werden immer ein Teil unseres Lebens sein. Denn auch ein repariertes Herz ist kein gesundes Herz – so die Worte des Chirurgen. Die Zukunft kann niemand vorhersagen. Die Angst ist bei uns eingezogen. Und trotzdem ist es ein tolles, buntes, lautes, aufregendes Leben. Mit vielen Sorgen und Ängsten. Aber eben auch mit vielen positiven Überraschungen, mit viel Glück, viel Liebe und viel Dankbarkeit. 



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