Für Kleine. Für Große. Fürs Herz.

Die Welt steht still – Diagnose Herzfehler

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen...

Wie gut, dass wir nicht wissen, wann das Leben Überraschungen für uns bereithält. Und vor allem nicht, welche Überraschungen es bereithält.

Während der ersten Schwangerschaft war ich ziemlich ängstlich. Irgendwie habe ich immer mit dem Schlimmsten gerechnet. Ich war Diabetikerin, 35 Jahre alt, also Risikoschwangere, hatte nach dem dritten Monat häufig Blutungen und war deshalb in sieben Wochen fünf Mal in der Notaufnahme. Eine Woche Bettruhe, eine Woche arbeiten und wieder in die Notaufnahme. Entspannte Schwangerschaft? Geht so… Nach dem 6. Monat wurde es ruhiger, aber die Angst schwang immer mit. Doch am Ende hielt ich ein zauberhaftes, kerngesundes Mädchen in meinem Arm.

In der zweiten Schwangerschaft war alles anders. Es gab keinerlei Blutungen, dafür spielte mein Diabetes total verrückt. Natürlich hatte ich immer noch Angst vor Auffälligkeiten, aber irgendwie war ich ein bisschen ruhiger. Schließlich war beim ersten Mal alles gut gegangen. Fantastischer Genpool und so. Aufgrund des Diabetes und weil ich (immer noch) über 35 Jahre alt war, gab es auch dieses Mal das volle Untersuchungsprogramm. Bis zum zweiten Trimester war alles unauffällig.

Risikoschwangere = Feindiagnostik

Drei Tage vor Weihnachten hatten wir den Termin zur Feindiagnostik. Die Geschenke waren verpackt, die Koffer halb gefüllt, Hamburg zeigte sich im schönsten Vorweihnachtskleid. Ich freute mich riesig auf den Termin. Es ist einfach jedes Mal etwas besonderes, sein Kind zu sehen, den schnellen Herzschlag, die kleinen Finger, Zehen…jedes Mal war ich hinterher im Glücksrausch. Dieses Mal gingen wir alle gemeinsam! 

Jakob war das letzte mal bei der Nackenfaltenmessung dabei, seitdem war viel passiert. Und weil die Untersuchung außerhalb der Kita-Betreuungszeit fiel, durfte die Krabbe auch mit. Mit Glück könnten wir ihr das verzerrte Gesicht ihres Bruders zeigen, auf den sie sich schon so freute.

Die Ärztin im Pränatalzentrum war sehr nett. Und unglaublich ruhig. Sie versuchte auch gleich, die Krabbe mit ins Gespräch einzubeziehen und schaffte eine sehr angenehme Atmosphäre.

Wie beim jedem Ultraschall klopfte mein Herz vor Aufregung und Vorfreude. Gleich das erste Bild zeigte das kleine Herz. Ich sah den Herzschlag und wurde automatisch ruhiger. Das Herz schlug. Gibt es für werdende Eltern etwas beruhigenderes als den kräftigen Herzschlag des Babys zu sehen und zu hören? Ich glaube nicht. Ich schaute Jakob an, der sich nur wenig auf dem Ultraschallbild orientieren konnte. „Kuck mal…sein Herz…es schlägt. Es schlägt!“ Damit war für mich alles gut. 

Die Ärztin untersuchte sehr gewissenhaft. Und schwieg. Von ihrer Kollegin kannte ich das ganz anders. Sie erklärt jedes Bild, jede Bewegung. Aber jeder ist anders. Und es war spät, wir waren die letzten Patienten. Nach 20 Minuten war sie fertig. Ich wischte mir das Gel vom Bauch und fragte, ob sie bestätigen könne, dass es ein Junge wird. Sie bejahte. Dann ging sie um die Liege herum, blieb am Schreibtisch neben dem Fußende stehen und fragt die Krabbe, ob sie mal zu ihr kommen wolle. Kopfschütteln. Bis heute frage ich mich, warum sie das wohl gefragt hat. Vielleicht war sie trotz jahrelanger Erfahrung noch auf der Suche nach dem richtigen Einstieg.

Diagnose Herzfehler - Die Welt steht still

Ich weiß nicht mehr, was genau sie dann gesagt hat. Ich dachte, die Worte brennen sich für immer ein. Wahrscheinlich hat mein Gehirn sie direkt für immer wieder ausgebrannt. Aus Selbstschutz. Ich habe das Gefühl, sie hängen noch irgendwo in mir und kommen irgendwann wieder zum Vorschein.


Sinngemäß sagte sie:
„Ich habe leider etwas Auffälliges gesehen. Das Herz Ihres Kindes sieht nicht so aus wie es aussehen sollte.“

Was?

Das Herz?

Und da war es. Das sagenumwobene, große, schwarze Loch. Der Sog war so immens. Die Ohren rauschten, das Herz raste, der Körper brannte und zitterte gleichzeitig, mir wurde schwindelig. So fühlt es sich also WIRKLICH an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird. 

Das HERZ! 

Ausgerechnet das HERZ?

Wird er leben?

Das war meine erste Frage. 

„Wird er leben?“
Ja.

Gottseidank!

Ich brach in Tränen aus. Ich konnte meinen Herzschlag in den Ohren spüren und mein Herz schmerzte, als würde es gerade krampfen. Die Ärztin erklärte uns den Herzfehler. Das Rauschen war so laut und ich musste mich konzentrieren, damit mein Kreislauf bei mir bleibt, so dass ich nur einen Bruchteil verstand. Ganz zu schweigen von dem, was ich wirklich begriff. Fallot-Tetralogie. Überreitende Aorta. Sauerstoffarmes und -reiches Blut vermischt sich. Verengung der Pulmonalarterie. Mögliche Sauerstoffunterversorgung. Herzmuskelverdickung. Vielleicht eine Herzvergrößerung. Dazu ein doppelter Aortenbogen. Eventuelle Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme. Manches ist, manches kann.

Kann man das operieren?
Ja, es ist operabel. Aber: es kann nicht nur, es muss operiert werden. Eine OP ist unumgänglich. Eventuell muss sogar zweimal operiert werden. Einmal kurz nach der Geburt und dann zwischen dem 4. und dem 6. Lebensmonat. 

Mittlerweile zitterte der ganze Körper. Ich schwitzte und mir war unglaublich schlecht. 

Geht das minimalinvasiv? Endoskopisch?
Nein. Ausgeschlossen. Es ist eine OP am offenen Herzen. Am offenen Herzen? Ich merkte, wie mein Kreislauf wegsackt.
Gottseidank kannte ich in diesem Moment das komplette Ausmaß noch nicht.

Haben Sie noch Fragen?

Jakob fragte, ob der Tiger behindert sein wird. Kann. Muss aber nicht. Eine Behinderung lässt sich nie ausschließen. Ist aber pränatal auch nur unzureichend nachzuweisen. Herzfehler können isoliert auftreten. Aber ein Herzfehler kann natürlich ein Indiz für Behinderungen, Begleiterkrankungen oder Gendefekte sein. Trisomie zum Beispiel. 13, 18, 21. Das soll kurzfristig mit einer Amniozentese geklärt werden. 

Fruchtwasseruntersuchung. 

Ist das nicht wahnsinnig gefährlich? Es wurde immer mehr. Ich wollte, dass es einfach nur aufhört. Ich hatte das Gefühl, es erdrückt mich. Ein Herzfehler. Mindestens eine unumgängliche Herz-OP. Mögliche Behinderungen. Und morgen früh auch noch all die Gefahren eingehen, die die Amniozentese mit sich bringt? Wir waren beide in diesem Moment so betäubt, so ohnmächtig, dass wir diesen Schritt nicht mal wirklich hinterfragten.

„Kommen Sie direkt morgen früh wieder. Am besten noch vor 8 Uhr. Und googlen Sie nicht.“

Das Gespräch lief natürlich viel intensiver ab. Sehr lang, sehr ruhig, sehr ausführlich. Die Ärztin hat nichts dramatisiert, sondern einfach die Karten auf den Tisch gelegt. Unsere Fragen ehrlich beantwortet, ohne rumzueiern. Hängen geblieben sind jedoch diese Fetzen.

Und die Bilder von der kleinen Krabbe, die zwischen uns hin und her läuft. Ich immer noch auf der Untersuchungsliege, Jakob im Stuhl daneben. Die Krabbe, wie sie um unsere Aufmerksamkeit kämpft und dann merkt, dass irgendetwas anders ist und schlagartig ruhig wird. Auch mit 16 Monaten fühlen und verstehen Kinder wesentlich mehr als wir ihnen manchmal zutrauen.

Der Welt entrückt

Wir verließen die Praxis und standen mit unserem neuen, unglaublich schweren Rucksack vor der Tür. Eine Stunde zuvor waren wir durch die gleiche Tür gegangen und wollten unser gesundes Kind anschauen. Jetzt war es nicht mehr gesund und die Welt schien irgendwie entrückt. Die Menschen um uns herum waren lachend in Gruppen auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt. Die fühlbare Weihnachtsstimmung war kaum zu ertragen. Ich hätte am liebsten laut geschrien. Wie kannst Du Dich einfach weiterdrehen, Welt? Bleib verdammt noch mal stehen! Für alle! 

In solchen Momenten wird einem immer besonders bewusst, wie merkwürdig es doch ist, dass für manche Menschen die Welt untergeht, während neben mir jemand auf dem Heimweg ist und darüber nachdenkt, ob er lieber Kartoffeln oder Nudeln zum Abendessen möchte. Natürlich ist es gut so. Es fühlt sich nur so unwirklich an. 

Wir fuhren an den Landungsbrücken vorbei. Ich starrte auf den dunklen Hafen, die weihnachtlichen Lichter und ließ den Tränen freien Lauf. Wir saßen den Großteil der Fahrt schweigend nebeneinander, versuchten zu verstehen, was uns gerade gesagt wurde, konnten es aber nicht.

Zuhause rief ich meine Eltern an. Höre, wie sie gegen die Tränen kämpfen. Erfolglos. Übermorgen wollten wir hinfahren und Weihnachten dort verbringen. Jetzt wollte ich kein Weihnachten mehr. Oder: ich hatte das Gefühl, ich schaffe es nicht. Aber die kleine Krabbe sollte Weihnachten feiern. Für sie sollte alles weitergehen. Und ich wollte getröstet werden. Meine Eltern sagten, sie würden alles machen, was immer wir wollen. Und selbst das überforderte mich.

Der Kopf voller Fragen

Abends saß ich mit dem Laptop auf dem Sofa und öffnete Google. Tu es – sagte mein Bauch. Lass es – sagte mein Kopf. Jakob hielt mich davon ab. Ich wollte so viel wie möglich wissen. Wollte bei den Ärzten die richtigen Fragen stellen. Fragen waren mehr als genug da und poppten fast im Sekundentakt auf: Immer wieder: Warum? Warum er? Er hat doch nichts getan? Noch gar nichts! Nix mit Karma oder so! Das ist doch ungerecht. Warum nicht ich? Warum soll er mit so einem Päckchen sein Leben starten? ER HAT DOCH NICHTS GETAN! 

Wie wird ihn das beeinflussen? Wie wird die Lebensqualität sein? Wie ist die Sterblichkeitsrate – ohne OP und mit OP? Wie ist die Lebenserwartung – ohne OP und mit OP? Welche Risiken bringt die Fruchtwasserpunktion morgen mit sich? Was würde Trisomie für uns bedeuten? Familie, Job, Alltag, Reisen…wie wird das alles zukünftig aussehen? 

Und gleichzeitig: Was wird mit der kleinen Krabbe passieren? Was bekommt sie mit? Was wird sich für sie verändern? Wie verkraftet sie das? Das hat sie doch nicht verdient. Sie soll eine glückliche, unbeschwerte Kindheit haben und Eltern, die für sie da sind. Können wir beiden gerecht werden? Was, wenn der „worst case“ eintritt, was passiert dann mit ihr? Bleibt sie auf der Strecke? Wird sie ein Schattenkind, das am Ende… Stop. Was wir als Familie tragen müssen, wird sich zeigen. Wie wir es tragen, ebenso.

Angst, Verzweiflung, Unsicherheit. Und eine erschlagende, lähmende Traurigkeit. Vor uns lag die erste schlaflose Nacht von vielen….



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